Eine kurze Einführung in ein bizarres und wundervolles Oevre
Für Fantasy-Fans und Comic-Aficionados ist Neil Gaiman schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr. Sein aktueller Roman The Ocean at the End of the Lane (Der Ozean am Ende der Straße) hat es an die Spitze der US-Bestsellerlisten geschafft und ist bei den British National Book Awards zum Buch des Jahres gewählt worden (letztes Jahr war der Gewinner 50 Shades of Grey).
In Deutschland ist ihm ein solcher Durchbruch in den Mainstream bisher nicht gelungen, aber auch hier wird sein neuer Roman gefeiert – unter anderem von mir (hier nochmal der obligatorische Link zu meiner Kritik).
[Anm.: Ich hatte vor ein paar Tagen die Gelegenheit, mit Gaiman zu sprechen; das Interview folgt nächste Woche.]
Seine Bücher Coraline und Stardust (Der Sternenwanderer) sind erfolgreich verfilmt worden, außerdem hat er das Drehbuch zu Robert Zemeckis‘ Beowulf geschrieben und Miyazakis Prinzessin Mononoke ins Englische übersetzt. Fürs Fernsehen hat er unter anderem eine Folge für Babylon 5 und zwei für Doctor Who geschrieben.
Das Gesamtwerk aus (unter anderem) Märchen, Fantasy, Horror, Kinderbüchern, Comics und unzähligen Kurzgeschichten passt nicht in eine Schublade, weder im realen noch im übertragenen Sinn; Gaiman selbst erzählt, dass seine Bücher in deutschen Buchhandlungen im Fantasy-Regal stehen, in England unter „Fiction“, und in Südamerika findet man sie angeblich im „Magischen Realismus“.
Von außen betrachtet kann das Gaiman-Versum überwältigend sein, deshalb hier ein paar Tipps, um den Einstieg zu erleichtern.
Niemalsland / Neverwhere (1996), Roman:
Angefangen hat der Roman als Fernsehserie für die BBC; Gaiman war aber mit der Umsetzung nicht glücklich und wollte der Geschichte als Roman eine zweite Chance geben. Tatsächlich ist das Buch ein Klassiker, während die Fernsehserie heute so gut wie vergessen ist.
Wie Alice im Wunderland steigt der Londoner Richard in ein magisches, unterirdisches Parallel-London ab; nachdem er der jungen Door das Leben gerettet hat, ist er plötzlich für seine Mitmenschen unsichtbar, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als Door nach „London below“ zu folgen. Gaiman besiedelt Unterwelt mit Charakteren und Kreaturen aus klassicher Literatur, Fantasy, Märchen und religiösen Mythen und schafft so einen unwiderstehlichen Hybriden aus Märchen und Parallelwelten-Fantasy.
Mehr davon?
Es gibt nur ein Neverwhere (obwohl Gaiman sagt, dass er schon lange ein Sequel im Kopf hat). Aber wer mehr Neverwhere möchte, dem sei die Comic-Adaption von Gaimans langjährigem Freund, Lucifer-Autor Mike Carey, ans Herz gelegt. Carey rafft die Geschichte zwar, fängt aber die Stimmung von Gaimans Roman fantastisch ein.
Auch die BBC-Radio-Adaption mit u.a. James McAvoy, Benedict Cumberbatch und Anthony Steward Head ist (anders als die Fernsehserie) sehr zu empfehlen.
Auch sehr gut: Im von Gaiman geschriebenen Film Mirrormask (Regie: Dave McKean) findet sich die junge Helena einer fantastischen Welt wieder, in der eine finstere Königin ihre Tochter – Helenas Doppelgängerin – sucht.
Der Sternenwanderer / Stardust (1999), illustrierter Roman:
Die Verfilmung von X-Men: First Class-Regisseur Matthew Vaughn hat zwar auch ihren eigenen Charme, aber das Buch ist pure Magie. Illustrator Charles Vess und Gaiman schicken ihren Protagonisten Tristan über eine Mauer in das Märchenreich Faerie, wo er einen auf die Erde gefallenen Stern in Gestalt einer wunderschönen jungen Frau findet. Bald sind die beiden auf der Flucht, denn mörderische Hexen und über-ambitionierte Prinzen wollen den Stern um jeden Preis in ihre Finger bekommen.
Es gibt zwei unterschiedliche Versionen von Stardust, eine reine Romanversion und eine elaborat illustrierte, die man fast als Graphic Novel bezeichnen könnte. Letztere ist – zumindest meiner Meinung nach – um längen besser. Gaimans Text macht nur 50% der Geschichte aus – die andere Hälfte sind Charles Vess‘ elaborate, fantasievolle Illustrationen.
Mehr davon?
Die Stardust-Verfilmung (2007, u.a. mit Claire Danes, Michelle Pfeiffer und Robert DeNiro) kann der Vorlage zwar nicht das Wasser reichen, ist aber trotzdem sehenswert.
Das Gebrüder Grimm-Update The Sleeper & The Spindle (bisher nur in England erschienen) ist eine fantasievolle Neuerzählung, die dem Geist der Märchen treu bleibt und für sein neustes Werk Hansel & Gretel (gerade in den USA erschienen) hat Gaiman einige der besten Kritiken seiner Karriere bekommen.
Coraline (2002), Roman:
Viele Erwachsene haben sich beklagt, die Geschichte um die „andere“ Mutter, die ihrer Tochter Knöpfe auf die Augen nähen möchte, sei zu grausam und unheimlich für Kinder. Gaiman allerdings besteht darauf, er wollte Kinder nicht erschrecken, sondern sie vorbereiten; schließlich hält das Leben auch die eine oder andere Grausamkeit für sie bereit. Recht hat er, denn Kinder gruseln sich gerne (oft lieber als Erwachsene). Eine Geschichte zu schreiben, die so fantasievoll, psychologisch komplex, verstörend und trotzdem für Kinder geeignet ist ist ein kleiner Geniestreich. Und große Literatur.
Mehr davon?
Gaimans Kinderbücher sind alle gut, aber die morbid-komische Dschungelbuch-Neuerzählung The Graveyard Book kommt Coraline stilistisch am nächsten.
Auch die Coraline-Verfilmung, von Nightmare Before Christmas-Regisseur Henry Sellick fängt das Buch gut ein – auch wenn seine Version nicht ganz so verstörend ist.
American Gods (2001), Roman:
Das „andere Magnum Opus“ (neben Sandman) ist in der deutschen Fassung derzeit nicht mehr um Druck. Das liegt allerdings daran, dass nächstes Jahr eine erweiterte Fassung erscheinen soll. Die epische Geschichte des ehemaligen Häftlings Shadow, der im Krieg zwischen alten und neuen Göttern zwischen die Fronten gerät, kombiniert das beste von Thriller, Drama und Urban Fantasy. Für viele ist American Gods Neil Gaimans bester Roman; kein Wunder, dass die Erwartungen an die TV-Adaption (ursprünglich mal bei HBO geplant, jetzt aber produziert vom Spartacus-Sender STARZ) sehr hoch sind.
Mehr davon?
Neben den offensichtlichen Parallelen zu Sandman (siehe unten) hat Gaiman auch eine Fortsetzung bzw. Spinoff über „Mr. Nancy„ geschrieben: Anansi Boys ist kein wuchtiges Fantasy-Drama, sondern eine stille Komödie – und eins von Gaimans besten und zu unrecht so oft ignorierten Werken.
Toll ist auch der absurde, apokalyptische Roman Good Omens / Ein Gutes Omen (1990, gemeinsam mit Scheibenwelt-Autor Terry Pratchett)
The Sandman (1989-1996), Graphic Novel:
Zehn Bände mit insgesamt rund zweitausend Seiten – plus zahlreiche Sonderbände (Endless Nights, Dream Hunters) und Spin-offs (Death, Mike Careys Lucifer) können erst mal ordentlichen Reflekt einflößen. Da hilft es auch nicht, dass der erste Band Preludes & Nocturnes konfus und sehr episodisch ist, und größtenteils Handlungsstränge anstößt, die erst viel später wieder aufgegriffen werden. Aber dranbleiben lohnt sich. Über die sieben Jahre seiner Entstehung fügt sich Sandman zu einem gewaltigen Epos zusammen. Die Legende von Morpheus, dem Gott des Schlafes hat außerdem nicht ein Zeichner illustriert, sondern viele verschiedene, so dass sich die komplexe Mythologie wie ein literarisches Puzzle erschließt, dessen Teile aus verschiedenen Welten, verschiedenen Zeiten und von immer wieder neuen Erzählern kommen.
Mehr davon?
Wirklich, noch mehr??!
Die Welt der Götter und Sagen hat Gaiman später in American Gods (siehe oben) noch einmal aufgegriffen, aber Sandman ist, alleine schon wegen seines Umfangs, einzigartig.Immerhin: Zur Zeit kehrt Gaiman mit dem (bisher) grandiosen Sandman Overture (erschienen sind 3 von insgesamt 6 Heften) noch einmal in die Welt von Morpheus zurück.
Bonus: Neil Gaiman für Fortgeschrittene
Wer auch die dunkelsten Ecken in der Welt des Neil Gaiman ergründen möchte, dem seien die beiden frühen Novels Mr. Punch und Violent Cases ans Herz gelegt, zwei beunruhigende und durchweg verstörende Porträts einer Kindheit.
Gaimans Regiedebüt, das Horror-Mockumentary A Short Film about John Bolton ist theoretisch auf DVD erhältlich, aber inzwischen vergriffen. Für Fans lohnt sich die Suche, denn neben dem bizarren (das ist als Kompliment gemeint!) halbstündigen Film enthält die DVD zahlreiche Extras, unter anderem eine (komplette!) Lesung.