Hand. Cannot. Erase.
Progressive Rock, Experimental
Steven Wilson
2015
Melancholische Tour de Force
Steven Wilson ist definitiv ein Kind von Traurigkeit, zumindest musikalisch. Für Hand. Cannot. Erase., Wilsons viertes Soloalbum (oder das fünfte, wenn man seine CD mit Cover-Songs mitzählt) hat er sich einer Materie mit besonders viel Potential für Melancholie angenommen: Die Inspiration ist die wahre Geschichte einer jungen Frau, die in ihrem Londoner Apartment gestorben war und mehr als zwei Jahre von niemandem vermisst wurde, obwohl sie beliebt und erfolgreich war.
Die semi-fiktive, tragische Chronik eines Lebens ist nicht nur ein stimmiges Bild für Isolation in der Großstadt, sondern auch eine perfektes Zusammtreffen von Form und Inhalt; der Grundton von Hand. Cannot. Erase. erinnert oft an die dichten, atmosphärischen Klänge von Pink Floyd (und damit an Wilsons eigene Band Porcupine Tree). Gleichzeitig verzichtet er fast komplett auf die Jazz-Elemente, die seine letzten beiden Alben geprägt haben.
Die (von programmierten Beats und gesprochenem Text getragene) Single „Perfect Life“ hat vorab einen kleinen Eklat in Steven Wilsons Fanforen ausgelöst. Die Angst, dass aus Steven Wilson plötzlich (Electro-Pop Queen) Anne Clark geworden sein könnte, ist aber unberechtigt. Im Kontext des Albums ist „Perfect Life“ zwar ein organischer und schlüssiger Teil des Konzepts, stilistisch ist er aber ein Ausreißer: Hand. Cannot. Erase. klingt nicht nach charttauglichem Electro-Pop (nichts gegen charttauglichen Electro-Pop!), sondern ist genauso „handgemacht“ und „proggig“ wie seine beiden Vorgänger. Gleichzeitig wirft das Album großzügig mit Ohrwurm-tauglichen Hooks um sich.
Aber auch wenn Wilson Gitarrist Guthrie Govan und Keyboarder Adam Holzman in der zweiten Hälfte des Albums hier und da Raum für ausufernde Soli einräumt, steht auf dem Album das Songwriting im Vordergrund. Angefangen mit dem Intro „First Regret“ (das die Overtüre von sowohl The Whos „Tommy“ als auch Rushs „2112“ heraufbeschwört) stellen die fünf Ausnahmemusiker (neben Wilson, Holzman und Govan sind auch diesmal wieder Marco Minnemann und Nick Beggs dabei) ihre beeindruckende Virtuosität komplett in den Dienst von Melodie und Atmosphäre.
Das Album durchläuft (bis auf den Jazz) die komplette Bandbreite von Wilsons klanglichem Vokabular – Prog, Pop, Rock und Ambient. Das Wort „Meisterwerk“ nutzt sich schnell ab; es ist aber Bemerkenswert, dass sich Wilson mit Hand. Cannot. Erase. zum dritten Mal in Folge selbst übertroffen hat.
Kai, ich beneide dich, dass du das schön hören kannst. Da ich mir aber die limitierte Box bestellt habe, möchte ich das Ereignis der klongernden Briefkastenklappe, dem Rascheln des Auspackens und dem ersten Anhören durch nichts trüben. Bei „Perfect Life“ konnte ich aber nicht widerstehen. Ich mag es sehr. Ach, was ich eigentlich sagen wollte: Schöne, kompetente Rezension.