Kritik: Juan Villoro - Das wilde Buch
Desirée Löffler
El libro salvaje
Fabel
Mexiko-City
Mexiko
2014 (Originalausgabe: 2008)
233 Seiten
Hanser
Eine bibliophile Fabel für junge Leser
Es geht…
… ums Erwachsenwerden: Juan ist 13, als seine Eltern sich trennen, und weil seine Mutter ihre Angelegenheiten regeln muss und sein Vater in Paris eine Brücke baut, verbringt Juan die Sommerferien bei seinem exzentrischen Onkel Tito. Der lebt in einem Haus voller Bücher, tausender Bücher, vielleicht sogar hunderttausender, und er weiht Juan in ein Geheimnis ein: Seine Bücher suchen sich ihre Leser – und auch wenn er gar nicht so viel und so gern liest, ist er, Juan, ein besonderer Liebling dieser Bücher: ein Lector Princeps. Juan versucht herauszufinden was das zu bedeuten hat, welche anderen Geheimnisse das Haus seines Onkels birgt, wie das wilde Buch zu bändigen ist – und wie er das Herz von Catalina erobern kann, der schönen Apothekerstochter von gegenüber.
Bücher in Das wilde Buch…
… sind magische Wesen, und diese magischen Bücher funktionieren vor allem als Metapher für die ganz alltägliche Leseerfahrung. Die Bücher in Onkel Titos Haus suchen sich ihre Leser aus, verschwinden plötzlich, wenn sie nicht gelesen werden möchten, andere tauchen unvermittelt an Stellen auf, an denen sie niemand vermutet hätte. Ein Abenteuerroman zum Beispiel in der Abteilung „Leise Maschinen“. Damit spiegelt Villoro diesen Moment, in dem man merkt, dass ein Buch gerade einfach nicht will. In dem sich die Sätze vor uns zu verschließen scheinen, obwohl wir vielleicht viel Gutes gehört haben und uns das Buch ein paar Wochen später wahrscheinlich so gut gefallen würde – aber es ist einfach nicht der Moment. Dass Juan und Catalina zwar das selbe Buch, aber eine ganz andere Geschichte lesen, dass ganz andere Charaktere in den Vordergrund rücken, ist in Das wilde Buch zwar übernatürlich; das Phänomen erkennt aber jeder, der sich schonmal mit jemand anderem über ein Buch unterhalten und sich dabei gefragt hat, ob man wirklich vom selben Buch spricht. Genau wie das Phänomen, dass Bücher sich gegenseitig verändern.
Das wilde Buch und ich…
…, wir mochten uns. Auch wenn ich vielleicht kein Lector Princeps bin,hat Das wilde Buch sich offenbar ganz gern ins Gelesenwerden gefügt. Trotz des Titels ist es ein stilles Buch. Gemächliches Tempo, niemand muss die Welt retten oder gerät in Lebensgefahr – Das wilde Buch bietet eher Abenteuer im kleinen Rahmen. Dafür hat Villoros Jugendroman eine zeitlose Qualität. Eine Freundin der Mutter hat den 2. Weltkrieg miterlebt, aber Catalina darf ganz selbstverständlich mit Juan alleine das Haus erkunden – nicht unbedingt typisch für die 50er oder 60er. Außerdem sind Scheidungen selbstverständlich, genau wie Telefone, auch im Hotel, in dem der Vater wohnt – aber vom Internet spricht niemand.Auch das Haus von Onkel Tito befindet sich in einem seltsamen Schwebezustand. Juan muss anfangs ein Glöckchen mit sich führen, um sich nicht zu verlaufen, aber nie wird davon gesprochen, dass der Onkel in einem besonders großen Haus wohne. Es wirkt eher, als habe es überhaupt keine festen Dimensionen.
Überhaupt hat Das wilde Buch eine Fabel-hafte Qualität. Die Charaktere haben so zum Beispiel kaum Eigenschaften, abgesehen von oberflächlichen kleinen Details, die immer wieder beschworen werden – Catalinas schiefer Zahn zum Beispiel. Die Wirkung ist aber eben gar nicht oberflächlich, denn das wirkt nicht wie nicht besser gekonnt, sondern wie eine bewusste Entscheidung, die den Fabel-Charakter unterstreicht. Zumal sich alle Charaktere um die Sonne von Juans Universum – Onkel Tito – drehen, und der ist so dreidimensional, dass er fast aus den Seiten springt.
All das hat mir gefallen, genau wie das metafiktionale Element der Geschichte, das sich langsam entwickelt und über das ich nicht zu viel verraten möchte. Und dann sind da die vielen Textstellen, die ich mir notiert habe, weil sie mir so gefallen haben.
„Manche Menschen glauben, sie verstehen ein Buch allein deswegen, weil sie lesen können. Aber wie ich dir schon gesagt habe: Bücher sind so etwas wie Spiegel – jeder findet in ihnen das, was er in seinem Kopf hat.“
oder
„Wer hat es denn geschrieben?“
„Das weiß ich nicht. Bücher sind wichtiger als ihre Autoren. Bei den allerbesten glaubt man, sie hätten sich selbst geschrieben.“
Aber richtig begeistert hat mich Das wilde Buch leider nicht. Das mag an mir liegen – mir liegen Romane mit Fabel-Charakter nicht, ich mag weder den Kleinen Prinzen noch den Alchemisten noch Dienstags bei Morrie. Das wilde Buch hat mir besser gefallen als all diese Bücher, denn es moralisiert nicht und trägt nie zu dick auf. Außerdem, machen wir uns nichts vor, geht es nunmal um Bücher. Die leise Magie, die sich beim Lesen entfaltet, ist also nichtmal an mir vorbeigegangen. Aber ich habe sie eben nur vorbeischweben sehen; richtig ergriffen hat sie mich nicht.
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Das wilde Buch ist eine leise Fabel über das Erwachsenwerden, das Lesen und die erste Liebe. Für mich hätte es handfester sein dürfen, Fans von Büchern wie dem Kleinen Prinzen dürften aber begeistert sein.
Pop / Kultur / Schock: Juan Villoro hat viel Kluges übers Lesen zu sagen - eindeutig KULTUR



