
dtv-Lektorin Patricia Reimann über die Magie des Romans, seine Wiederentdeckung und vergrabene Schätze der Literaturgeschichte
Letztes Jahr war da plötzlich ein Bestseller, den niemand hat kommen sehen: John Williams‘ Stoner, das stille Porträt eines Literaturbesessenen, entstanden in den 60er Jahren Das heißt – fast keiner hat ihn kommen sehen. Eine, die schon früh an den Roman geglaubt und hart für seine deutsche Wiederveröffentlichung gearbeitet hat, ist Patricia Reimann, Programmleiterin Literatur beim Deutschen Taschenbuch Verlag. Wir haben mit ihr über Stoner gesprochen.
PopKulturSchock: Stoner ist im Grunde eine sehr einfache Geschichte, in der nicht viel passiert – und doch konnte ich nicht aufhören zu lesen. Woher kommt dieser Sog?
Patricia Reimann: Ich glaube, etwas worauf man sich verständigen kann, ist dass der Sog entsteht durch die unbedingte Aufrichtigkeit, mit der diese Geschichte erzählt wird, mit der der Autor einen Blick auf diesen Stoner wirft. Ein Mann, der ohne jedes Moment von Falschheit, von Eitelkeit, von Gier, von Eigenliebe ist – sondern im Gegenteil ein Mensch ist, der ganz bestimmte innere Maximen hat, denen entsprechend er lebt. Und der vor allem etwas hat, das ihn durch dieses ganze von außen betrachtet eher unglückliche Leben hindurch trägt, nämlich die Liebe zur Literatur und zur Sprache. Und der aus dieser Liebe eine Kraft und einen Lebenssinn und ein Glück bezieht, wie es vielen Menschen, die augenscheinlich viel bessere Bedingungen haben in ihrem Leben, nie erfahren.
PKS: Das ist die erste deutsche Übersetzung von einem Roman von John Williams, dabei war er ja kein Unbekannter – er hat sogar einen National Book Award gewonnen.
PR: Ja, in Amerika hatte er eine gewisse Bekanntheit, aber im Grunde auch da nur in Insiderkreisen. Ich erzähle immer ganz gerne diese Geschichte, dass es einige Autoren gab, die jahrelang diesen Roman, Stoner, im Dutzend kauften, um ihn immer und immer wieder zu verschenken. Aber Fakt ist, dass trotz dieses National Book Award der Autor nie zu einer größeren Bekanntheit gelangte. Erst mit der Wiederentdeckung des Autors und des Romans 2006 durch die Reihe New York Review Books Classics, die ein phantastisches Programm machen. Durch diese Wiederentdeckung gab es plötzlich eine Aufmerksamkeit, und man hat erkannt, dass man hier ein Meisterwerk vor sich hat.
PKS: Wo haben die Editoren dieser Reihe das Buch denn aufgetrieben?
PR: Der Cheflektor ist einfach ein sehr belesener Mann, und er kannte einfach alles, was gut ist. Und er kannte eben auch Dinge, die vergessen waren. Er ist, wie ich annehme, extrem gut vernetzt, auch in eine Generation hinein, der er selbst nicht angehört, nämlich Leute, die in den 60er Jahren in der Mitte ihres beruflichen Lebens standen: Literaten, Autoren, Verleger, und da kann man so eine Empfehlung schnell auffangen. Und auf dieser Basis hat er ein ganz großartiges Programm ins Leben gerufen.
PKS: Warum gibt es wohl jetzt so einen Hype um Stoner? Trifft der Roman gerade heute einen Nerv oder ist er schlicht zeitlos?
PR: Ich glaube, dass die wichtigste Eigenschaften von zeitlosen Romanen ist, dass sie in der Tat immer einen Nerv treffen, zu allen Zeiten. Und ich glaube, das ist bei Stoner passiert. Stoner ist ein Roman, könnte man sagen, der unter anderem auch vom Standhalten erzählt, und das ist natürlich in unsicheren Zeiten, wie es unsere eine ist, etwas ganz Besonderes: Wie ist man man selbst, wie weiß man, wer man ist, wie bleibt man Mensch, in Zeiten, wo man ständig irgendwelchen Einflüsterungen und falschen Idealen aufsitzt? Ich könnte mir vorstellen, dass das die Botschaft ist, nach der sich viele Menschen insgeheim sehnen.
PKS: Schlummern wohl noch mehr Schätze dieser Art in der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts?
PR: Ich gehe davon aus. Ich habe zum Beispiel noch zwei Bücher aus Amerika akquiriert, die ich ähnlich vielversprechend einschätze. Aber das bezieht sich sicherlich nicht nur auf Amerika. Es gibt ja jetzt gerade hierzulande eine sehr interessante… Wiederentdeckung will ich gar nicht sagen, denn Clarice Lispector, die brasilianische Autorin, die jetzt gerade wieder neu aufgelegt wird, die war gar nicht vergessen, sondern wir haben sie schon in den 80er Jahren lesen können, auch auf Deutsch. Aber man hat sie irgendwie nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Und plötzlich stellt man eben fest, wie zeitlos und wie bedeutsam diese Autorin ist. Das geschieht immer wieder, es hat in den letzten Jahren mehrfach solche Phänomene gegeben. Raymond Carver war ein ähnliches Beispiel, in den 80er Jahren erstmals übersetzt, aber im Grunde an der Öffentlichkeit vorbei, und dann, zehn, fünfzehn Jahre später hat das einfach nochmal jemand gemacht, in den 90er Jahren, und dann wurde das plötzlich ein richtig großer Erfolg. Das gehört mit zu den wunderbaren Seiten unseres Berufs, dass man immer wieder solche Entdeckungen machen kann und dass das, was eben wirklich Rang und Bedeutung hat, auch die Zeiten und vor allem die Moden, aber eben auch den Zeitgeist imstande ist zu überdauern.
PKS: Gibt es bei dtv Bemühungen, solche Perlen selber wieder auszugraben, oder kann ein Verlag das eigentlich gar nicht leisten?
PR: Das kann man fast nicht leisten. Das hat aber auch noch andere Gründe: Gerade, wenn es sich um Titel handelt, die wir übersetzen, dann sind wir auf gewisse Vorläufe angewiesen. Ich kann Ihnen zum Beispiel erzählen, wie es mir mit dem Stoner gegangen ist: Ich habe dieses Buch vor etwa drei Jahren aus New York mitgebracht. Auf dem Rückflug habe ich es gelesen und war fasziniert von diesem Text, der dann aber einige Wochen auf meinem Schreibtisch liegen blieb. Und ich hab mich immer wieder gefragt: Soll ich das jetzt kaufen oder kaufe ich das nicht? Und dann habe ich mich am Ende entschlossen, ich kauf das jetzt einfach, weil es so überragend gut ist, auch wenn ich davon dann nachher gerade mal 4000 Stück verkaufe. Und das war damals wirklich meine Einschätzung. Und dann hab ich den Übersetzer kontaktiert. Ich hatte damals gerade Saturday von Ian McEwan gelesen und fand die Übersetzung von Bernhard Robben sehr gelungen und dachte: Das ist die Stimme, die ich für John Williams und für Stoner gerne haben möchte. Aber Robben war natürlich beschäftigt, und zwar auf lange Zeit hinaus – und dann habe ich sagen können: ‚Das macht mir gar nichts aus, ich warte einfach, bis Sie Zeit haben. Ich hab gar keine Eile mit diesem Buch.‘ Und während ich auf ihn wartete, wurde das zum internationalen Bestseller! Das war wirklich ein ganz, ganz seltener Glücksfall, dessen bin ich mir auch wirklich bewusst. Ich glaube, es passiert einem nur einmal in seinem Lektorenleben, dass man so vom Glück gestreift wird wie in dieser Geschichte.
PKS: Wären Sie nicht lieber früher dran gewesen und hätten den Hype selbst losgetreten?
PR: Nein, warum? Ich profitiere jetzt von diesem Hype. Es wäre tatsächlich fast anmaßend zu glauben, man könnte so etwas willentlich lostreten; das passiert im Allgemeinen nicht. Hier ist eine Dynamik entstanden, durch die Prominenz von Anna Gavalda in Frankreich, die den Roman auf Französisch übersetzt hat, und eben auch international einen Namen hat, sodass es auf Italien übersprang. Die Engländer zum Beispiel haben erst im Anschluss an den französischen und italienischen und dann den holländischen Erfolg mit dem Taschenbuch einen phantastischen Erfolg gehabt. In der Hardcover-Ausgabe hatte der Verlag nur ein paar tausend Exemplare verkauft.
Das ist vielleicht eine Besonderheit des literarischen Lebens: Man kann Erfolg nicht präjudizieren. Da sind so viele Unwägbarkeiten. Man kann natürlich etwas dafür tun, in der allgemeinen oder in der kommerzielleren Belletristik mag das noch einigermaßen funktionieren, aber in der Literatur funktioniert es eigentlich nicht. Und insofern hätte mir nichts Besseres passieren können, als einen derartigen Marketing-Vorlauf zu kriegen, den ich, um es pragmatisch zu sagen, niemals hätte bezahlen können. Denn bei so einem Buch kann man nicht mit hunderttausend verkauften Exemplaren rechnen, wenn nicht etwas ganz Außergewöhnliches passiert.
PKS: Aber jetzt ist es doch zum Bestseller geworden, auch bei uns.
PR: Ja, wir haben 250.000 Exemplare verkauft, das ist natürlich eine ganz großartige Resonanz. Ich muss wirklich sagen, dass ich so etwas wie bei diesem Titel noch nie erlebt habe. Auf der Messe in Frankfurt [2013, Anm. d. Red.] hat mich wirklich fast jeder angesprochen und ich habe Sätze gehört wie ‚Ach, Sie sind die, der wir den Stoner zu verdanken haben.‘ Das ist wirklich einfach großartig, dass es eben doch so einen Nerv getroffen hat, und dass es so viele Menschen gibt, die sich von einer solchen Geschichte in den Bann ziehen lassen wollen. Das macht mir überhaupt sehr viel Mut, muss ich sagen, für meine gesamte Arbeit.
Gerade ist John Williams' Stoner im Taschenbuch erschienen, im Februar folgt die deutsche
Übersetzung von Williams' Debütroman Butcher's Crossing, einem Western, der den Mythos
des goldenen Wilden Westen demontiert.
Zur Leseprobe von Stoner
Herzlichen Dank für die Hintergrundgeschichte eines besonderen Lesevergnügens in diesem Jahr: http://thomasbrasch.wordpress.com/2014/10/27/stoner-der-liebenswurdige-purist/
Interessant, Deine Theorie, dass mehr Menschen als früher akzeptieren, dass sie nicht ganz groß hinaus müssen. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: dass genau dieses Sich-Entwickeln-Müssen heute noch viel präsenter ist als damals – und genau deshalb die Sehnsucht nach einem Gegenmodell, wie Stoner es darstellt, viel größer ist als in den 50ern. Was meinst Du dazu?
In der Gesellschaft mag der eigene Anspruch, etwas „zu erreichen“ größer geworden sein. Seit den 50ern sind die Möglichkeiten hierzu ja auch gestiegen. Milieugrenzen sind durchlässiger geworden, jeder Zweite kann heute studieren. Damit erhöht sich zugleich der Anspruch/Druck der Gesellschaft und auch der eigene, diese Chancen auch erfolgreich zu nutzen.
Die Leser des Buches werden jedoch wohl keinen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung bilden. Literatur findet ja gemeinhin immer ein recht homogenes Publikum, das sich beim Lesen gerne selbst bestätigt, zumindest was die vermittelten Werte in einem Werk betrifft. Und da glaube ich wiederum, dass die begeisterten Leser von Stoner einer Gruppe angehören, in der man sich mit der eigenen Mediokrität wohlwollend arrangiert hat.
Nein, einen repräsentativen Durchschnitt sicher nicht – aber vielleicht gerade jene, die sich nach außen hin mit der eigenen Durchschnittlichkeit abgefunden haben, im Innern aber immer fürchten, dass sie mehr aus sich hätten machen können. Gerade dann gibt der Stoner doch ein gutes Gefühl…
Vielleicht auch so. Ich für meinen Teil würde aber behaupten, dass ich mit mir im Reinen bin und nicht hadere.
Oh, na das wollte ich auch nicht unterstellen! Aber brasch + buch ist ja auch alles andere als mittelmäßig.
Das habe ich so auch nicht verstanden. Vielen Dank für die Blumen. In diesem Sinne war ja nun Stoners Leben auch kein mittelmäßiges. Vielmehr stellt die Figur uns die Frage, was haben wir (bislang) aus unseren Möglichkeiten gemacht? Ich bin da immer etwas ambivalent und frage mich, inwieweit sind Talent und aussergewöhnliche Fähigkeiten nicht auch Verpflichtung. Natürlich kann man niemand zwingen, sein Talent auszubilden und seine Lebenschance zu nutzen. Doch letztlich sind wir auch soziale Wesen und sollten unsere Fähigkeiten und Talente nicht nur nach dem Gusto unseres Egos entwickeln, sondern auch einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Wer herausragende musische oder intellektuelle Fähigkeiten hat, hat auch eine Verantwortung dafür – sich selbst und der Gesellschaft gegenüber. Aber jetzt schweife ich wohl ein bisschen zu weit von der Intention des Autors ab.