
Dieses Jahr ist am 9. Mai Bescherung…
Der Gratis Comic Tag klingt eigentlich zu gut, um wahr zu sein: Wer es in Deutschland, Österreich oder der Schweiz diesen Samstag (also am 9. Mai) schafft, das heimische Sofa zu verlassen und in die Stadt zu fahren (zugegeben an so manchem Wochenende ist das eine unüberwindbare Hürde) wird in diversen Comicläden und Buchhandlungen reich beschenkt. Wie in den letzten Jahren stehen auch dieses Mal mehr als 30 Hefte zur Auswahl, die einen guten Querschnitt des Mediums bieten: Superheldengeschichten, Cartoons, Mangas, Indie-Comics, echte Klassiker (Prinz Eisenherz!!) und natürlich auch wieder ein paar Frankobelgische Serien.
Kai:
Ich bin dieses Mal ehrlich gesagt weniger beeindruckt als in den letzten Jahren. Insgesamt hatte ich zwar den Eindruck, dass das Niveau etwas gestiegen ist, aber mir fehlen dafür die ganz großen Highlights wie Koma, Die Katze des Rabbiners oder Sweet Tooth. Trotzdem: Ein paar wirklich tolle Hefte sind auch dieses Jahr dabei.
Mawil meets Janosch in der von (unter anderem) Schweinen, Kühen und Fliegen (!) bevölkerten Stadt von Ariol (Reprodukt), in der ein kleiner Esel erfrischend banale Abenteuer in der Grundschule erlebt. Erwachsene spielen nur am Rande eine Rolle; Ariol ist aber einer der viel zu seltenen Fälle, in denen ein Comic zwar vor allem Kinder anspricht, aber auch Erwachsene seinem Charme nur schwer entkommen können.
An ein deutlich älteres Publikum richtet sich dagegen Love (Tokyopop), auch ein Comic über Tiere. Ohne Worte erzählen Frédéric Brrémaud und Federico Bertolucci mit epischen Zeichnungen die Geschichte ihres tierischen Protagonisten, der zum Spielball einer grausamen Natur wird. Der wunderschöne und tragische Band des Manga-philen Verlags Tokyopop wäre der mit Abstand herausragendste Comic des diesjährigen Gratis Comic Tages, würde die Geschichte nicht in der Mitte abreißen. So bleibt immerhin ein toller Appetizer, der Lust auf mehr macht.
Gelungen ist auch der erste Teil des nostalgisch-sentimentalen Literatur-Updates Das letzte Dschungelbuch (Epsilon), das Rudyard Kiplings-Roman aus der Perspektive eines alten Mowgli erzählt, der als Großvater, sehnsüchtig an seine jungen Jahre im Dschungel zurückdenkt. Der Band ist nicht immer elegant erzählt und auch die Übersetzung knirscht hier und da, aber Autor Stephen Desberg schafft es, an entscheidenden Stellen auf die richtigen emotionalen Knöpfe zu drücken.
Mein vierter Favorit (und interessanterweise der einzige ohne Tiere), Reinhard Kleist Backstage (Carlsen), ist eine eigenwillige Mischung aus Comic-Reportage und Werbebroschüre. Neben Ausschnitten aus Reinhard Kleists Graphic Novels (unter anderem dem fantastischen Traum von Olympia (von einem gewissen Kai Löffler im Deutschlandfunk besprochen) und einem netten Essay über Kleist lohnt sich das Heft vor allem wegen Kawergosk-Fünf Sterne, einer kurzen Comic-Reportage aus einem Syrischen Flüchtlingslager, in der Kleist effektiv Zeichnungen von Flüchtlingskindern einbindet. Das Resultat ist zwar eher eine fragmentarische Sammlung von Eindrücken als eine Geschichte, und Kleist fühlt sich sichtlich unwohl, selbst der Mittelpunkt der Erzählung zu sein, aber dank einiger lebhaft eingefangener Momente ist Kawergosk sehr lesenswert.
Gefallen haben mir außerdem:
Der unterhaltsame erste Teil von Die Schöne und das Biest (Splitter), bzw. die erste Hälfte des in Deutschland erscheinenden Sammelbandes) bietet gleich zwei gute Gründe, ausgerechnet dieses abgegriffene Märchen noch einmal neu zu erzählen: Untote Krieger und fliegende Piratenschiffe. Nimm das, Disney! Purer „Pulp“ ist der inspiriert erzählte Horror-Western Die Sechste Waffe (All) während die Autoren und Zeichner der neuen Peanuts (Cross Cult) den ideomatischen Stil des verstorbenen Peanut-Vaters Charles Schultz geschmackvoll und überzeugend in moderne Comic-Panels übertragen, so dass die neuen Geschichten um Charlie Brown & Co. eher zu einer Weiterführung als zu einer bloßen Kopie der klassischen Peanuts werden. Auf Trondheim (Ralph Azham), Kirkman (Outcast) und die Neuerzählung von Don Quixote geht Desirée im Detail ein.
Erwähnenswert sind aber auch Band 1 des Manga-Hits Übelblatt (KAZÉ) und das Historienepos Troja (Splitter), beide sind für meinen Geschmack zwar etwas holprig übersetzt, aber trotzdem gute Comics und auf jeden Fall einen Blick wert. Und auch die beiden Agenten-Abenteuer, Velvet von Ed Brubaker (Dani Books) und der neu aufgelegte erste Teil der Kultserie Largo Winch (Schreiber & Leser), sind für Freunde des Genres unbedingt zu empfehlen.
Desirée:
Don Quixote (Egmont) und Comic vertragen sich irgendwie gut. Nachdem Carlsen uns vor ein paar Jahren beim Gratis Comic Tag mit dem Anfang der kongenialen (ja, wirklich!) zeitgenössischen Adaption von Flix beglückt hat, gibt es jetzt die ersten 40 Seiten der Quixote-Fassung des Briten Rob Davis. Die war immerhin für den Eisner Award nominiert, und das ist auch kein Wunder: Das Heft ist geistreich, hat eine eigenwillige Bildsprache irgendwo zwischen cartoonig und kantig und ist höchst ökonomisch erzählt.
Ein ganzer Band von der französischen Comiclegende Lewis Trondheim! Mit Ralph Azham: Belügt man jene, die man liebt? (Reprodukt) beginnt der Meister des absurden Humors eine zweite Fantasy-Serie, diesmal ohne Joann Sfar, aber in einem ganz ähnlichen Ton wie der ambitionierte moderne Klassiker Donjon. Das Heft vom Gratic Comic Tag entführt uns in die Welt des lakonischen Antihelden Ralph. Dem kann sein Dorf nicht verzeihen, dass er trotz seiner Gabe – Ralph ist Seher – nicht der erwartete Auserwählte ist. Und dann beginnt ein Abenteuer, in dem er doch seine Qualitäten unter Beweis stellen muss. Der einzige Haken an diesem subversiven Heft ist, dass man sehr ernsthaft in Gefahr ist, die folgenden Bände direkt auch noch ins Körbchen zu legen.
Love: Der Fuchs (Tokyopop) ist nur ein Teaser, kein ganzer Band – aber was für einer! Frédéric Brrémaud & Federico Bertolucci erzählen die Überlebensgeschichte eines Fuchses in leuchtenden Farben, aufregenden Perspektiven und wunderschönen Lichteffekten, ganz ohne Worte. Mir ihren überwältigend schönen Bildern finden die beiden im ewigen Kreislauf vom fressen und gefressen werden Bedeutung und Erhabenheit.
Für den Walking-Dead-Schöpfer Robert Kirkman muss man eigentlich nicht noch extra die Werbetrommel rühren, aber der Vollständigkeit halber: Cross Cult hat großzügig 50 Seiten seiner atmosphärischen neuen Serie Outcast rausgerückt – genug, um so richtig in die düstere Noir-Welt von Kyle Barnes und den Schattenwesen, die ihn verfolgen, einzutauchen.
Honorable Mention: Der kleine Holzhof Verlag ist regelmäßig mit einem Heft vertreten und hat dieses Jahr richtig geklotzt: Der siebte Band der deutschen Serie Die Virtonauten von Remory, in dem sich auch noch ein herausnehmbares Heft mit Comic-Strips aus der DDR versteckt. In den Virtonauten springt Autor Hagen Flemming mühelos zwischen Mars, dem alten Ägypten und dem viktorianischen London umher. Das Ergebnis ist eine unterhaltsame, flockige Story – nur leider ist ihr nicht ganz leicht zu folgen, trotz der kleinen Zusammenfassung vorne im Heft. Hätte der Verlag sich mal für die erste Folge statt der siebten entschieden! Aber auch so lohnen sich die Virtonauten, und das Heft im Heft gibt als Bonus einen interessanten Einblick in die Comic-Szene der DDR.
Noch ein Tipp: Nicht jeder Laden hat jeden Band, und ein paar der Hefte sind so beliebt, dass sie innerhalb von Minuten vergriffen sein werden. Wer also ein komplettes Set anstrebt, sollte früh aufstehen. Viel Glück beim Sammeln und viel Spaß beim Lesen!