
Protokoll einer Sucht
Ich lese nie weniger als fünf Bücher gleichzeitig. Ich kann einfach nicht anders, auch wenn ich immer wieder Leuten begegne, die die Nase rümpfen, wenn sie meinen Stapel mit angefangenen Büchern sehen. Weil: „Du verwässert Dir doch das Leseerlebnis!“
Aber ich liebe es, ein neues Buch anzufangen; dieses Gefühl, dass alles möglich ist, dass ich mich vielleicht gleich unsterblich verlieben werde, dass dieses Buch mein Leben verändern könnte, oder zumindest meine Sicht auf einen Aspekt darin. Und weil ich meistens nicht so lange warten kann, fange ich neue Bücher an, so oft ich kann. Bücher, die mich nach etwa einem Drittel nicht gepackt haben, wandern deshalb meistens halb gelesen zurück in die Bibliothek, in Tauschbörsen, öffentliche Bücherschränke oder zu Freunden und Familie.
Seit ich denken kann, stapeln sich auf meinem kleinen Nachttisch all diese angefangenen Bücher, an denen ich je nach Lust weiterlese. Und weil ich längst nicht alles, was ich lese, hier vorstellen kann, widme ich mich ab heute einmal im Monat dem Stapel auf meinem Nachttisch.
Ganz oben liegt ein Buch, das aussieht wie eine 30 Jahre alte Biographie aus der Unibibliothek, aber das ist nur Tarnung. Es ist der neuen Stephen King, vor einem Monat (auf Englisch) erschienen. Nachdem ich King jahrelang für uninteressant gehalten habe (natürlich ohne mich jemals mit ihm zu beschäftigen), hat mich letztes Jahr sein Roman Joyland bekehrt, in dem King nostalgisch die Naivität der ersten Liebe feiert, und den ich seitdem immer wieder empfohlen habe. Leider mit mäßigem Erfolg, ich war mit den Vorurteilen in meinem Freundeskreis nicht alleine. Revival jedenfalls ist eine Art großer Bruder von Joyland: genauso nostalgisch, nur geht es hier ums Älterwerden. Vielleicht hat Stephen King deshalb gesagt, Revival sei “too scary“ und hinzugefügt: „I don’t even want to think about that book any more.” Gruselig ist es bislang jedenfalls nicht – noch sind aber 100 Seiten Zeit für Schrecklichkeiten.
Das Buch direkt darunter ist gepfuscht, denn eigentlich lege ich auf meinen Nachttisch nur angefangene Bücher, und in David Mitchells The Bone Clocks habe ich höchstens mal hineingeschnuppert. Aber das Buch war mein meistersehntes Weihnachtsgeschenk, und damit ich mich jeden Abend angemessen drauf freue (und bis dahin schonmal das schöne bunte Cover bewundern kann), liegt es schonmal bereit.
Das türkise kleine Wunder mit der weißen Schrift heißt Wir haben Raketen geangelt und ist das Debüt der Schauspielerin Karen Köhler. Ein Erzählband. Ich habe bisher nur eine Geschichte gelesen, Il Comandante – die aber dafür gleich zweimal. Und das, obwohl sie von einer krebskranken jungen Frau erzählt wird und ich um tödliche Krankheiten normalerweise einen feigen Bogen schlage. Vor allem wenn sie so schonungslos thematisiert werden wie hier. Aber Il Comandante ist nicht nur schonungslos, sondern auch leicht, und hat einen unwiderstehlichen Rhythmus. Entdeckt habe ich den Band von Karen Köhler in einer tollen Rezension bei Buzzaldrins Bücher.
Dann ist da noch mein aktueller Fröhlichkeitsspender, das neue Buch von Hilary McKay – Binny for short. Hilary McKay gehört für mich zu den besten Autoren für Kinder und Jugendliche überhaupt. Ihre größte Stärke sind leicht überspannte, dysfunktionale aber irgendwie hinreißende Familien – und natürlich ihr großartiger, trockener Humor. Hilary McKays Bücher sind mein bevorzugtes Mittel gegen Novemberdepressionen. Dieser November war aber so schön, dass immer noch eine Menge Buch übrig ist. Es wird sicher noch ein paar Wochen auf meinem Nachttisch liegen bleiben, denn ich koste jede Seite aus.
Und ganz unten: ein weiterer englischer Roman, auf den ich lange gewartet habe – und ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, warum ich mit dem letzten Band von Lev Grossmans Magician-Trilogie immer noch nicht weiter gekommen bin (Anm. v. Kai: In der Tat – lies das endlich mal!). Anders als die meisten Rezensenten von Amazon und Konsorten finde ich die ersten zwei Bände nämlich hervorragend. Sie sind vielleicht ungeschickt vermarktet worden: Auf dem Cover stand ein Blurb vom Guardian, wenn ich mich recht entsinne, auf dem stand: „Harry Potter for grownups“. Das weckt sicher falsche Erwartungen. Der erste Band The Magicians spielt zwar in einem Internat für Magier, ist aber eine völlig andere Art von Geschichte: ein finsterer Entwicklungsroman, der sich intensiv in die Seele dieses Phänomens begibt, das die Amerikaner „Teenage angst“ nennen und sich mit dem Preis auseinandersetzt, der Abkürzungen im Leben (i.e. Magie) kostet. Gleichzeitig ist The Magicians ein Kommentar auf Fantasy-Klischees, Rollenspiele und nicht zuletzt auf C. S. Lewis‘ Narnia-Romane mit ihrer christlichen Symbolik. Band 3 hat mir bisher sehr gut gefallen – und trotzdem habe ich ihn liegen gelassen. Vielleicht ist noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, mich von der Trilogie zu verabschieden.